MEHR ALS AUSGEDRUCKTES INTERNET

Von Lars Radau, Journalist Das Medien-Magazin, 4. November 2019

Die Designer Raban Ruddigkeit und Lars Harmsen haben aus dem Netz ein Magazin zusammengestellt, das sie selber gerne hätten. Die Hauptzutat: Haltung.

Eigentlich, sagt Raban Ruddigkeit, sei ja der Facebook-Algorithmus verantwortlich. Genauer: sein durch seine Likes, Shares, gespeicherte Inhalte und Aufrufe selbst konfigurierter Facebook-Stream. Dazu Inhalte aus anderen sozialen Medien – Instagram, Twitter –, aber auch von Webseiten, Blogs und aus Podcasts – fertig ist »H-O-T Histories of Tomorrow«, ein elegant layoutetes und auf feinem Papier gedrucktes Magazin, das der renommierte Gestalter und sein Partner Lars Harmsen im Oktober auf den Markt gebracht haben. Dabei, und darauf legt Ruddigkeit großen Wert, sei das 100 Seiten starke Heft weder »einfach nur ausgedrucktes Internet« noch spiegele es ausschließlich seine eigene Filterblase wider. »Wir haben aus den unterschiedlichsten Ecken des Netzes die verschiedensten Leute zusammengeholt«, sagt der 51-Jährige, der auch Mitglied des Art Directors Club war. Sie und ihre Texte sollen »unsere Gewohnheiten herausfordern, unsere Gewissheiten hinterfragen und unsere Gedankengebäude ins Wanken bringen«, heißt es im Editorial.

Und auch wenn auf dem leuchtend gelben Cover prominent der Begriff »Spaltung« prangt, geht es im Heft vor allem um Haltung. Die zeigt sich in den unterschiedlichen Situationen und aus den unterschiedlichen Perspektiven, unter anderem der der Kolumnistin und Sexarbeiterin Salomé Balthus. Sie beschreibt, wie sie mit dem Shitstorm um eine ihrer Kolumnen in der Welt – nach der das Springer-Blatt die Zusammenarbeit beendete – und der Offenlegung und Vermengung ihrer bürgerlichen Identität mit der Job-Identität umgeht. Oder in einer Reportage-Interview-Bildstrecke mit Müttern, deren Kinder zwangsadoptiert wurden. Oder in einem wütenden Text des Kreuzberger Künstlers und Autors Behzad Karim-Khani, der beschreibt, warum seine aus dem Iran geflüchteten Eltern wieder dahin zurückkehrten. Oder aus der Sichtweise des Wiener Spiegel-Korrespondenten Hasnain Kazim, des sächsischen Anwalts und Grünen-Politikers Jürgen Kasek und Autoren des »Finsterwalder Bürgernetzwerks«, die sich unter der Kapitelüberschrift »Angry« mit Rassismus, Neonazis und der langen Geschichte rechter Nachwende-Gewalttaten in Sachsen auseinandersetzen.

Hierzu hat Ruddigkeit, der seine ersten beruflichen Schritte als Fanzine-Macher und Art Director des Stadtmagazins Kreuzer im Nachwende-Leipzig gemacht hat, auch einen eigenen Text beigesteuert. Das Magazin ist ihm eine Herzensangelegenheit – weil es aus seiner Sicht »für den Leser gemacht ist«. Und nicht wie die Magazine der vergangenen Jahrzehnte, für die er auch selbst gearbeitet hat, »zuerst für Anzeigenkunden, Zielgruppen und Nielsen-Gebiete«. Betriebswirtschaftlich, sagt Ruddigkeit, sei das Risiko überschaubar. Die erste Ausgabe von H-O-T startete mit einer Erstauflage von 1.000 Exemplaren. »Das machen Lars und ich immer erstmal so, damit wir ohne Reinreden ein Modell erstellen können«, betont Ruddigkeit. Wichtig ist ihm, dass alle Beteiligten ein »faires Honorar« für ihre Beiträge bekommen sollen. Perspektivisch können sich die H-O-T-Macher vorstellen, zweimal im Jahr eine neue Ausgabe zu produzieren. Dabei gehen sie bestenfalls von bis zu 25.000 Exemplaren für den deutschsprachigen Raum aus, die per Abo, über ausgewählte Buchhändler, Museumsshops, Concept Stores, Festivals oder auch digitale Vertriebspartner vertrieben werden können. Das Auftakt-Heft soll also »auch Referenzobjekt« für potenzielle Investoren sein, sagt Raban Ruddigkeit. Und für die nächste Ausgabe – Schwerpunkt »Körper & Geist« – habe er aus seinem Facebook-Stream schon reichlich Material herausgefiltert.