
#baseballschlaegerjahre
Habib war mein bester Freund in der Zeit meiner Kindheit. Unsere Mütter waren Kolleginnen und bekamen uns nur wenige Wochen voneinander entfernt. Nachdem meine Mutter starb, wurde er dann tatsächlich so etwas wie mein Bruder. Habib war der Sohn eines syrischen Medizinstudenten, der Leipzig 1968 dann doch nicht attraktiv genug fand, um nach seinem Studium einem Kind zuliebe in dieser Tristesse zu verbringen. Die Syrer wurden wie viele arabische Völker zu Freiheitshelden stilisiert, wobei man gern unerwähnt ließ, dass deren sogenannter Feind aus den Resten der von den Deutschen eliminierten Juden bestand. Das passte den Kommunisten, die sich so eine saubere, antiimperialistische Legende zurechtlegen konnten.
Und noch viel mehr natürlich den Nazis selbst, die in den Machtzirkeln der proletarischen Diktatur noch immer jede Menge Gewalt innehatten. So befanden sich im letzten Zentralkommitee der SED nach aktuellem Stand der Wissenschaft mehr ehemalige Mitglieder der NSDAP als der KPD. Habib und ich bekamen von alledem wenig mit. Wir spielten erst Cowboy und Indianer, dann Klebstoff und Feuerzeug, wir bastelten unsere eigenen Geldscheine und waren später von den ersten Falco-Kassetten dermaßen fasziniert, dass wir Fotoshootings mit Krawatten und Hemden organisierten, die ihrem Namen alle Schande machten. Eines Nachts sprühten wir im Villenviertel meines Vaters Ton-Steine-Scherben-Sprüche an die Wand und waren tatsächlich ein bisschen gekränkt darüber, nicht verhaftet zu werden.
Habib wurde der erste Punk in seinem Kiez, was damals so viel bedeutete, wie nicht das anzuziehen, was alle anzogen. Nicht die Musik zu hören, die alle hörten. Und vor allem nicht das zu sagen, was alle sagten. Auf den Straßen trieben sich schon die ersten Skinheads herum, aber keinen interessierte es. Habib hatte nur noch die Wohnung seiner Mutter als Zuflucht und wurde immer stiller. Und immer gereizter. Nur manchmal, wenn wir Sonntag nachmittags gintonictrunken durch die Pfützen der Leipziger Innenstadt tanzten, hatten wir ein Gefühl von Lebendigkeit und eine klitzekleine Ahnung davon, dass Freiheit etwas mehr sein könnte als ein Wort an einer Wand. Sofort nach dem Mauerfall verschwand Habib nach Amsterdam, wo es Sachen gab, die er lieben musste. Interessante Drogen, lockere Ladys und Leute, die ihn nicht ständig schräg anschauten.
Im Jahr 1990 kam er noch einmal nach Leipzig zurück. Als es nachts an meiner Tür klingelte, stand ein blutüberströmter junger Mann vor meiner Tür, den ich zuerst gar nicht erkannte. Habib, der immer zu den absolut Coolsten gehörte, sagte nur: »Heute bin ich das letzte Mal in Deutschland.« Eine Bande von Herren-Ossis hatte ihn direkt nach dem Aussteigen auf dem Leipziger Hauptbahnhof halb totgeschlagen. Damals, als es noch keine Shoppingmall war, sondern nichts als ein großes, schwarzes Loch. Wir haben noch eins, zwei Mal versucht, uns zu treffen, aber er ist einfach Stück für Stück verschwunden. Irgendwann habe ich davon gehört, dass er in Asien lebt, doch auch das ist schon lange her. Mittlerweile hat seine Mutter einen Privatdetektiv beauftragt, um ihn zu finden. Die Suche erstreckt sich dabei bis nach Australien und ich weiß wirklich nicht, wo ich ihn finden kann. Nur eines ist sicher — nicht in seiner Heimatstadt Leipzig.
Text von Raban Ruddigkeit,
aus H-O-T Histories Of Tomorrow,
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